Babyboomer: Die verkannte Generation

Über die Generation Y habe ich schon einiges geschrieben und noch mehr gelesen. Über die Babyboomer hingegen deutlich weniger und wenn, dann meist despektierliches im Sinne von: “Wo die mal sitzen, sitzen sie und deshalb haben wir Nachfolgegenerationen keine Chance. Die sind einfach zu viele.” Nun bin ich selbst Babyboomerin und kann sagen, ich bin schon oft aufgestanden und habe mich woanders niedergelassen. Und immer wieder war es spannend.

Babyboomer, Generation Y, Digital, Gesellschaft
Cover: suhrkamp.de

Doch zurück zum Anfang. Wie gesagt gibt es viel Literatur über die sogenannte Generation Y aber wenig über die Babyboomer. Umso mehr hat es mich gefreut, bei Suhrkamp “Babyboomer – Die Generation der Vielen” von Bernhard von Becker zu finden.

Babyboomer? Was ist das denn?

Ab Mitte der 50er Jahren hatte sich Deutschland nach dem Krieg soweit berappelt, dass man sich Kinder wieder leisten konnte. Gleichzeitig hatte die Pille ihren Siegeszug noch nicht begonnen. Bernhard von Becker fasst den Rahmen noch enger und zählt nur die Jahrgänge von 1960 bis 1965 dazu. Zum Wirtschaftwunder kam also auch das Allzeits-Fertilitäts-Hoch. Oder anders formuliert: Es wurde geboren, was das Zeug hielt.

Dass wir viele waren, wusste ich. Mit mir wurden insgesamt zwei Klassen mit jeweils knapp über 30 Kindern eingeschult. In einem Dorf mit 2.500 Einwohnern! Und nachmittags fand sich in der Straße immer jemand zum Völker- oder Federball spielen. Bernhard von Becker hat es noch etwas genauer: “Im Spitzenjahrgang 1964 wurden in Ost- und Westdeutschland zusammen etwas doppelt so viele Menschen geboren wie im bisherigen Niedrigstjahrgang 2009 – 1.357.304, um genau zu sein.”

Auch wenn er mit seinem Buch ziemlich an der Oberfläche eines Phänomens bleibt und ich in einem völlig anderen sozialen Umfeld aufgewachsen bin als er, hat er mich mit auf eine Reise in die Vergangenheit genommen.

Es regnete Absagen und Radioaktivität

1.357.304 Mal Jahrgang 1964, das erklärt, warum es für uns Babyboomer so schwer war, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. War man nicht herausragend gut, regnete es erst einmal Absagen. Die Arbeitgeber hatten die freie Auswahl. Sehr gute Abiturienten in Ausbildungsberufen, die maximal eine Mittlere Reife erfordert haben, waren keine Seltenheit. Gleiches galt für Studienplätze. Der Numerus Clausus wurde hoch und höher geschraubt, Praktika konnten nicht absolviert werden, weil es mehr Studierende gab als Praktikumsplätze und die Wohnungssuche war ein Drama. Nicht weil es – wie heute – so viele Single-Haushalte gab, sondern weil wir einfach zu viele waren. Und zu plötzlich da.

Geregnet hat es auch Radioaktivität und zwar die von Tschernobyl. Meine Großmutter war total verunsichert, ob sie denn den Salat jetzt noch essen soll oder nicht. Untergraben wäre ja keine clevere Lösung gewesen. Der Kompost auch nicht. Aber Sondermüll in die Mülltonne? Noch schlimmer traf es die Bauern, ganze Ernten sollten vernichtet werden, das Vieh nicht mehr raus auf die Weide. Ob was dran war? Das wissen nur die, die in ihrer Angst den halben Gemüsegarten ins Tübinger Radio-Isotopenlabor geschleppt haben, um ihn “geigerzählern” zu lassen. Wenige Jahre absolvierte ich in besagtem Labor meinen Radio-Isotopen-Kurs und der Leiter erzählte uns von verzweifelten Menschen, die nicht mehr wussten, was sie noch essen konnten und was nicht.

Verseucht oder nicht? Vor dieser Frage standen Gartenbesitzer und Bauern. (Symbol: public domain)
Tschernobyl hat wach gerüttelt

Angst war sowieso allgegenwärtig. Wir hatten Angst vor dem kalten Krieg. Er war mehr als einmal greifbar nah. Wir haben gegen Pershing demonstriert, was mir meinen ersten Besuch in Stuttgart beschert hat. Die Ölkrise sorgte für autofreie Sonntage, ein schöner Nebeneffekt eines eigentlich sehr heiklen Themas. Wegen der Wirtschaftskrise sollten wir uns keine großen Hoffnungen auf gute Jobs machen, und so weiter, und so weiter.

Hinterher war immer alles viel spannender

Kurz: Wir oder zumindest ich, haben früh gelernt, dass Sicherheit als solche doch sehr wankelmütig sein kann. Ein wertvolles Wissen, das vielleicht die Grundlage dafür geschaffen hat, warum ich mich in den rasanten Veränderungen unserer Gesellschaft derzeit so wohl fühle. Das “Hinterher” war nämlich immer cooler als das “Vorher”.

Ein schönes Beispiel ist dafür die Digitalisierung. Als Teenager musste ich mit Freunden noch im Wohnzimmer telefonieren. Es gab nur ein Telefon im Haus und das war fest mit der Wand verbunden. Das heißt: Jeder aus der Familie konnte mithören! Jeder! Und egal wie verklausuliert wir das, was nicht für Elternohren bestimmt war, verpackt haben, heute bin ich mir sicher, sie haben es trotzdem verstanden. Ganz ungünstig übrigens, wenn man während Papas Lieblingssendung telefonieren wollte. Der einzige Fernseher stand nämlich ebenfalls im Wohnzimmer. Wie einfach haben wir es heute mit unseren mobilen Geräten?! Geheimnisse mit Freunden austauschen? Kein Problem.

So ein Teil hing bei uns an der Wand, weil meine Großeltern mit zu den Ersten gehörten, die ein Telefon hatten. (Foto: public domain)
So ein Teil hing bei uns an der Wand, weil meine Großeltern mit zu den Ersten gehörten, die ein Telefon hatten. (Foto: public domain)

Mein erster Computerkurs fing damit an, dass die Kursleiterin uns Lochkarten zeigte. Ok, die waren damals schon out, aber sie hatte noch damit gearbeitet. Dann habe ich mich über 5,25 Zoll zu 3,5 Zoll Disketten vorgearbeitet, habe im Gymnasium Basic programmiert und mich mit HTML, Flash und SQL in die Welt des Internets “katapultiert”. Ich habe gechattet, dann Chats und Foren moderiert, ein Online-Magazin mit aufgebaut und irgendwann dann hauptberuflich gebloggt und kommuniziert. Und ich habe gemerkt, dass die permanente Veränderung um mich herum genau das ist, was mich begeistert.

Sie finden es eh raus!

Im Gegensatz zu Bernhard von Becker bin ich nicht in der Stadt sondern auf dem Dorf aufgewachsen. Sich in anonymen Kinderhorden verstecken zu können, hat da nicht funktioniert. Jeder, wirklich jeder kannte mich. Erst recht, weil meine Großmutter einen Laden hatte, in dem auch meine Mutter arbeitete. Hatte ich einen Bock geschossen, wussten meine Mutter und meine Großmutter es meistens schon, ehe ich wieder daheim war. Bin ich mit dem Auto frühmorgens auf Glatteis in den Graben gerutscht, wusste es mein Vater schon am gleichen Abend, weil zwei Kumpels von ihm mich wieder rausgeschoben haben, die zwar mich gekannt haben, ich sie aber nicht. (In besagtem Fall war es übrigens so, dass ich erst Jahre später davon erfuhr. Mein Vater hat ebenso dicht gehalten, wie meine Schwester und ich. Ich glaube, er war selbst nach so langer Zeit noch enttäuscht, dass ich es ihm nicht selbst gesagt habe).

Ok, ich gebe zu, es war oft äußerst unangenehm auf gewisse Dinge angesprochen zu werden, kaum dass man die Haustür drin war. Gerade so in der Pubertät, Jungs und so. Wisster Bescheid?! ABER: Ich habe daraus gelernt, dass es wenig Sinn macht, Sachen unter den Tisch kehren zu wollen. Wenn ich Mist baue, stehe ich dazu. Egal ob privat oder im Job.

Wir sind eine coole Truppe – zumindest teilweise

Kurz und gut, die Babyboomer sind schon ne coole Truppe. Nicht alle, bei weitem nicht. Viele davon sind im Sicherheitsdenken verhaftet geblieben und suchen heute verzweifelt nach dem Anschluss an die digitale Welt. Aber sehr viele sind eben mit der digitalen Entwicklung mitgewachsen und sehen – ebenso wie ich – Veränderung als Chance, nicht als Bedrohung. Mir gefallen dabei besonders die vielen mutigen Frauen, die jenseits der 40 aus dem Trott ausbrechen, ihr Leben in die Hand nehmen und ihre Ideen leben. Klar, gab es die früher auch schon, aber dank aktivem Netzwerken sind sie heute sichtbarer.

Bei den Digital Media Women gibt es einige coole Babyboomer

Deshalb Danke an Bernhard von Becker, für sein Buch “Babyboomer”. Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen auf die Reise in die Vergangenheit zu gehen, auch wenn unsere Hintergründe und Erfahrungen dank unseres sozialen Umfeldes so gänzlich unterschiedlich waren. Und Danke an Suhrkamp, die mir das Buch zur Verfügung gestellt haben.

Bernhard von Becker

Bernhard von Becker, geboren 1963, arbeitet als Rechtsanwalt und Verlagslektor. Er hat zahlreich zu Fragen des Urheber- und Presserechts veröffentlicht, unter anderem ein Werk zu gerichtlichen Buchverboten. Er lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in München.

Buchinfo: Babyboomer von Bernhard von Becker, erschienen bei Suhrkamp, März 2014, 148 Seiten, € 7,99, ISBN: 978-3-518-46508-0

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Bloggen auf WordPress.com.

%d Bloggern gefällt das: